Künstlergruppe Querschlag (2003-2008)

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Peter Piek

...verdammt geile Bilder!

Peter Piek
...verdammt geile Bilder!
ISBN 3-938543-05-1
mit einem Text von Michael Goller
1. Auflage 100 Exemplare 2005 Passage Verlag Leipzig
40 S., farbig, 10,- EUR

Katalogtext:

Atelierbesuch
Ich möchte also einen Text schreiben. Für einen Katalog. Über den Maler Peter Piek. Dazu besuche ich ihn am besten in seinem Atelier, um ihn zu interviewen. Ich werde ihm Fragen zu seiner Arbeit stellen: „Herr Piek, welche formellen Einflüsse nehmen Sie bewusst auf in Ihren Bildern?“, oder „Welchen kunstgeschichtlichen Vorbildern fühlen Sie sich verpflichtet?“, oder „Welche Rolle spielt das Material in Ihrem Schaffen?“, oder „Wie würden Sie Ihre bisherige stilistische Entwicklung beschreiben?“, und so weiter.
Zuerst fahre ich mit der S-Bahn in die Stadtmitte, ich lebe in einem westlichen Stadtteil, das Atelier des Malers befindet sich nördlich. Am Bahnhof wechsle ich in die Straßenbahn, fahre vier Stationen mit und steige unmittelbar hinter den weitläufigen Gleisanlagen wieder aus. Die dritte Querstraße, eine Querstraße mit fast ausschließlich ehemaligen Fabriken. Solchen mit vermoosten Bröckelfassaden und solchen mit vergitterten verdunkelten Fenstern mit grünen Plastikjalousien. Gegenüber eines der größeren Bordelle befindet sich die Adresse von Peter Piek. Querstehender Zweigeschosser im Hinterhof, wohl ehemals als Lagerhaus gebaut. Kein Briefkasten, keine Klingel. Die rostige Tür angelehnt. Sie krächzt gedämpft pathetisch und die Holzstufen nehmen mit ihrem Knarren das Hörmuster wieder auf. Die erste Etage. Eine Glastür. Angelehnt. Ich trete herein.
„Peter Piek? Hallo?“ Keine Antwort. Ich stehe in einer Art Vorraum. Links eine Küchenecke, rechts geht ein Gang ab. In der Mitte eine Tischtennisplatte. Schläger und Bälle liegen auf ihr. Eine kleine schwarze Katze unter ihr. Sie spielt mit einem heruntergefallenen Ball. Über der Platte hängt ein Bild. Querformat. Zwei Meter breit. Ich sehe darauf mehrere Reihen von Strichlagen, unbekümmert mit dickem Pinsel auf die weiße Leinwand gemalt. Viel Weiß bleibt stehen. Rhythmisches Rechts-Links. Vorhand-Rückhand. Wie beim Tischtennis. Weit ausholende Bewegung. Ein Titel: „Nr.15“ Aha. Irgendwo habe ich so ein ähnliches Bild schon einmal gesehen. Richtig, ich erinnere mich an eine Ausstellung, über die ich vor einiger Zeit gelesen hatte.
Wo ist Peter Piek? Ich rufe noch einmal. Vieles deutet darauf hin, das er hier war. Da wäre zum Beispiel die Küchenecke: Essenreste liegen herum und benutztes Geschirr. Am Kühlschrank kleben Postkarten von Kunstwerken: Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Jackson Pollock, Alexej von Jawlensky, Franz Marc. Und eine zeigt ein Bild mit lockeren Farbflecken, das mir noch unbekannt ist. Ich drehe die Postkarte etwas um, nur eine Ecke. Jerry Zeniuk steht da. Über der zweiteiligen Kochplatte hängt noch ein Kunstwerk. Ein Original. Ein kleines Bild von Peter, vertikale blaue Striche, Zeichnung von vier Augen einfach in die frische Farbe hineingezeichnet. Vier Augen – zwei Köpfe. Es brodelt und dampft. Eine leicht angerostete Aluminium-Espresso-Kanne läuft über. Ich nehme sie von der Kochplatte, gieße den Kaffee in eine der Tassen und gehe mit der Tasse den Gang entlang.
Ich gelange in einen weiteren Vorraum mit einem Tisch, die Tischplatte mit Kerzenwachs bekleckert. Ein Keramikaschenbecher voller Ölfarbreste. Tabak liegt daneben. Ich nehme ein Papierblättchen, drehe, rauche. Auf dem Fensterbrett stehen Pflanzen ohne Blätter. Links geht eine Tür ab. Über dem Tisch hängt ein Bild. Wieder zwei Köpfe. Diesmal in grau. Das Bild ist ausschließlich mit Grautönen gemalt. Sehr locker gemalt. Fröhlich. Trotz Grau. Ich rauche. Ein Mund und eine weibliche Figur schälen sich nach dem dritten Zug aus dem gestischen Gesabber heraus. Bewegung scheint möglich, ja sogar notwendig. Bewegung wohin? Bewegung.
Ich gehe zur Tür nach links. Dahinter ein Raum von der durchschnittlichen Größe eines Wohnzimmers. Darin ein Schreibtisch, ein Bett, eine Couch, eine Musikanlage mit monströsen Boxen. Ich sehe aus den Fenstern. Die Sonne scheint auf die gegenüberliegenden fensterlosen Industrieskelette. Vor der Couch ein Schachbrett mit einem angefangenen Spiel. Ich sehe zur Wand gegenüber. Ein riesiges Bild verdrängt die anderen Bilder, Skizzen und Aktzeichnungen. Es sind spontane Farbkleckse, die sich zu übergroßen Blumen organisieren. Aufpralldokumente von Kollisionen zwischen Großpinsel und Leinwand. Leuchtfarbenorgie in karmin, zinnober, cyan und indigo. Die Blumen tragen den Sieg davon auf dem Schlachtfeld eines grauöligen terpentinverwaschenen Untergrunds. Der Sieg des Lichts. Befreiung. Befreiung wovon? Ich sehe auf einen Stapel Bücher auf dem Regal: „Postneorealistische Malerei“, „Postneoneue Sachlichkeit“, „Postneoakademische Malschule“ sind die Titel der verstaubt-ungelesenen, weil noch eingeschweißten Bildbände.
Weiß hingegen befindet sich in einer gut möglichen Mattposition. Die Figuren sind wesentlich lockerer auf dem Schachfeld verteilt und nach dem Damentausch hat Schwarz alle Springer und Läufer sowie den verbliebenen Turm in seiner Hälfte. Versucht den König zu vermauern. Weiß hingegen ist flexibel und kann Kombinationen mit allen Figuren spielen, ist dabei, die schwarze Armee einzukreisen. Ich erkenne deutlich die Möglichkeit des Abzugsschachs, was Schwarz den letzten Turm kosten würde. Aber je länger ich das Spiel betrachte, desto vielfältiger werden die weißen Varianten. Ist das Spiel doch schon zu Ende? Hat Schwarz die Erstarrung seiner Position bereits geahnt und aufgegeben?
Ich verlasse den Raum, gehe den Gang weiter und gelange in einen weiteren Vorraum, der dem vorigen gleicht. Links eine Tür, geradeaus eine Tür, an der Wand ein Bild. Blau. Leuchtend und ins helle abgestuft. Frauengestalten. Brüste und Geschlechtsteile deutlich zu erkennen. „Drei Akte nach Beuys“ so der Titel. Perspektive? Irrelevant. Die Farbe schwappt bis kurz vor die entschieden gezeichneten Linien, vermeidet Konfrontationen. Poppig? Irrelevant. Ich sauge den Geruch des trocknenden Leinöls tief ein, für mich ein wesentlicher Vorteil von Originalen. Er übertönt endlich den störenden Geruch des Linoleumbodens, der an vielen Stellen zerschlitzt ist und die darunterliegende Filzpolsterung herausfasern lässt.
Der Raum hinter der linken Tür ist ziemlich klein. Bis auf einen Gasheizkörper ist er leer. Die ehemals weiß gestrichenen Wände sind vergilbt, hier und da löst sich die Tapete. An Nägeln hängen vierzehn (nachgezählt) kleine Bilder. Sie zeigen Köpfe. Köpfe mit ähnlicher Physiognomie. Es sind Porträts von Peter Piek, ich kenne ihn von einer Abbildung in einem Zeitungsbericht im Feuilleton. Natürlich habe ich mich im Vorfeld zu diesem Interview über den Maler informiert. Geboren 1981, Studium der Malerei an einer renommierten staatlichen Kunstakademie, eigenwilliger Querschläger, keiner Kunstrichtung zuschreibbar, enfant terrible im Kunstbetrieb. „Selbstbildnis als Maler“, „Selbstbildnis als Mensch“. Alle leuchtend, alle in ziemlich krassen Farbzusammenstellungen, neongrün und violett oder zitrongelb vor kobaltblau mit verlaufendem rot und lila Linie: „Selbstbildnis als Rockstar“. Alle signiert mit „peter p.“. Ich mache mir ein paar Notizen. Dabei werde ich von einem Geräusch im Gang unterbrochen, als ob jemand läuft. „Peter P?“, ich schaue nach draußen.
Die angesplitterte Holztür ist die letzte, die vom Vorraum ausgeht. Gehe durch. Dahinter ein Saal ohne weitere Ausgänge. Vielleicht zehn mal zehn Meter. Licht von zwei Seiten Fensterreihen, eine Holzsäule in der Mitte. Bilder an die Wände gelehnt. Sortiert. Auf der Rückseite beschriftet. Ölfarbenreste auf den Teppichresten. Ich blättere in Zeichnungen auf den Zeichentischen an den Fenstern. An der langen Wand drei große Formate mit noch frischem Farbauftrag, Linien erkämpfen sich ihren Weg durch das Weiß. Suche nach Befreiung. Die freie Linie. Wen will sie befreien? An der Decke hängt eine Glühlampe. Fotolampe. Tageslichtspektrum. Ja, die untergehende Sonne.
Peter Piek ist nicht da. Es gibt keine weiteren Räume. Ich schaue noch einmal in alle Räume und beschließe, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich gehe dazu noch einmal zur Tischtennisplatte, wo ich eine Seite aus meinem Notizbuch heraustrenne und mit einer Nachricht für Peter P. versehe. Dann gehe ich wieder in den Malsaal, um sie dort, am zentralen Platz des Schaffens, zu hinterlegen. Als ich die Tür zum Saal öffne, scheint dieser verändert. Gleißendes Licht durchflutet ihn jetzt. In der Mitte Peter P. auf dem Boden sitzend. Eine leere Pizzaschachtel und Weinflaschen liegen vor ihm. „Hallo Peter P.“, sage ich zu ihm. „ich komme wegen des vereinbarten Interviews.“ Peter sagt nichts. Keine Antwort oder irgendeine Begrüßung. „Peter P., können Sie mich hören?“ frage ich ihn. Er rülpst. Und fängt an zu tanzen. Erst langsam, immer schneller werden seine Bewegungen. Rhythmisch stampfen seine Füße. Er beginnt sich aufzulösen. Alles verschwommen. Ich schaue zu. Es wird klarer. Farben bewegen sich. Ich stehe still. Mir wird schwindlig. Ich gehe. Zur Tür. Sie ist blau.
Michael Goller, Leipzig, Januar 2005

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