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Peter Piek
...verdammt geile Bilder!
ISBN 3-938543-05-1
mit einem Text von Michael Goller
1. Auflage 100 Exemplare 2005 Passage Verlag Leipzig
40 S., farbig, 10,- EUR
Katalogtext:
Atelierbesuch
Ich möchte also einen Text schreiben. Für einen Katalog. Über den Maler
Peter Piek. Dazu besuche ich ihn am besten in seinem Atelier, um ihn zu
interviewen. Ich werde ihm Fragen zu seiner Arbeit stellen: „Herr Piek,
welche formellen Einflüsse nehmen Sie bewusst auf in Ihren Bildern?“, oder
„Welchen kunstgeschichtlichen Vorbildern fühlen Sie sich verpflichtet?“, oder
„Welche Rolle spielt das Material in Ihrem Schaffen?“, oder „Wie würden Sie Ihre
bisherige stilistische Entwicklung beschreiben?“, und so weiter.
Zuerst fahre ich mit der S-Bahn in die Stadtmitte, ich lebe in einem westlichen
Stadtteil, das Atelier des Malers befindet sich nördlich. Am Bahnhof wechsle ich
in die Straßenbahn, fahre vier Stationen mit und steige unmittelbar hinter den
weitläufigen Gleisanlagen wieder aus. Die dritte Querstraße, eine Querstraße mit
fast ausschließlich ehemaligen Fabriken. Solchen mit vermoosten Bröckelfassaden
und solchen mit vergitterten verdunkelten Fenstern mit grünen Plastikjalousien.
Gegenüber eines der größeren Bordelle befindet sich die Adresse von Peter
Piek. Querstehender Zweigeschosser im Hinterhof, wohl ehemals als
Lagerhaus gebaut. Kein Briefkasten, keine Klingel. Die rostige Tür angelehnt.
Sie krächzt gedämpft pathetisch und die Holzstufen nehmen mit ihrem Knarren das
Hörmuster wieder auf. Die erste Etage. Eine Glastür. Angelehnt. Ich trete
herein.
„Peter Piek? Hallo?“ Keine Antwort. Ich stehe in einer Art Vorraum. Links
eine Küchenecke, rechts geht ein Gang ab. In der Mitte eine Tischtennisplatte.
Schläger und Bälle liegen auf ihr. Eine kleine schwarze Katze unter ihr. Sie
spielt mit einem heruntergefallenen Ball. Über der Platte hängt ein Bild.
Querformat. Zwei Meter breit. Ich sehe darauf mehrere Reihen von Strichlagen,
unbekümmert mit dickem Pinsel auf die weiße Leinwand gemalt. Viel Weiß bleibt
stehen. Rhythmisches Rechts-Links. Vorhand-Rückhand. Wie beim Tischtennis. Weit
ausholende Bewegung. Ein Titel: „Nr.15“ Aha. Irgendwo habe ich so ein ähnliches
Bild schon einmal gesehen. Richtig, ich erinnere mich an eine Ausstellung, über
die ich vor einiger Zeit gelesen hatte.
Wo ist Peter Piek? Ich rufe noch einmal. Vieles deutet darauf hin, das er
hier war. Da wäre zum Beispiel die Küchenecke: Essenreste liegen herum und
benutztes Geschirr. Am Kühlschrank kleben Postkarten von Kunstwerken: Ernst
Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Jackson Pollock, Alexej von Jawlensky,
Franz Marc. Und eine zeigt ein Bild mit lockeren Farbflecken, das mir noch
unbekannt ist. Ich drehe die Postkarte etwas um, nur eine Ecke. Jerry Zeniuk
steht da. Über der zweiteiligen Kochplatte hängt noch ein Kunstwerk. Ein
Original. Ein kleines Bild von Peter, vertikale blaue Striche, Zeichnung von
vier Augen einfach in die frische Farbe hineingezeichnet. Vier Augen – zwei
Köpfe. Es brodelt und dampft. Eine leicht angerostete Aluminium-Espresso-Kanne
läuft über. Ich nehme sie von der Kochplatte, gieße den Kaffee in eine der
Tassen und gehe mit der Tasse den Gang entlang.
Ich gelange in einen weiteren Vorraum mit einem Tisch, die Tischplatte mit
Kerzenwachs bekleckert. Ein Keramikaschenbecher voller Ölfarbreste. Tabak liegt
daneben. Ich nehme ein Papierblättchen, drehe, rauche. Auf dem Fensterbrett
stehen Pflanzen ohne Blätter. Links geht eine Tür ab. Über dem Tisch hängt ein
Bild. Wieder zwei Köpfe. Diesmal in grau. Das Bild ist ausschließlich mit
Grautönen gemalt. Sehr locker gemalt. Fröhlich. Trotz Grau. Ich rauche. Ein Mund
und eine weibliche Figur schälen sich nach dem dritten Zug aus dem gestischen
Gesabber heraus. Bewegung scheint möglich, ja sogar notwendig. Bewegung wohin?
Bewegung.
Ich gehe zur Tür nach links. Dahinter ein Raum von der durchschnittlichen Größe
eines Wohnzimmers. Darin ein Schreibtisch, ein Bett, eine Couch, eine
Musikanlage mit monströsen Boxen. Ich sehe aus den Fenstern. Die Sonne scheint
auf die gegenüberliegenden fensterlosen Industrieskelette. Vor der Couch ein
Schachbrett mit einem angefangenen Spiel. Ich sehe zur Wand gegenüber. Ein
riesiges Bild verdrängt die anderen Bilder, Skizzen und Aktzeichnungen. Es sind
spontane Farbkleckse, die sich zu übergroßen Blumen organisieren.
Aufpralldokumente von Kollisionen zwischen Großpinsel und Leinwand.
Leuchtfarbenorgie in karmin, zinnober, cyan und indigo. Die Blumen tragen den
Sieg davon auf dem Schlachtfeld eines grauöligen terpentinverwaschenen
Untergrunds. Der Sieg des Lichts. Befreiung. Befreiung wovon? Ich sehe auf einen
Stapel Bücher auf dem Regal: „Postneorealistische Malerei“, „Postneoneue
Sachlichkeit“, „Postneoakademische Malschule“ sind die Titel der
verstaubt-ungelesenen, weil noch eingeschweißten Bildbände.
Weiß hingegen befindet sich in einer gut möglichen Mattposition. Die Figuren
sind wesentlich lockerer auf dem Schachfeld verteilt und nach dem Damentausch
hat Schwarz alle Springer und Läufer sowie den verbliebenen Turm in seiner
Hälfte. Versucht den König zu vermauern. Weiß hingegen ist flexibel und kann
Kombinationen mit allen Figuren spielen, ist dabei, die schwarze Armee
einzukreisen. Ich erkenne deutlich die Möglichkeit des Abzugsschachs, was
Schwarz den letzten Turm kosten würde. Aber je länger ich das Spiel betrachte,
desto vielfältiger werden die weißen Varianten. Ist das Spiel doch schon zu
Ende? Hat Schwarz die Erstarrung seiner Position bereits geahnt und aufgegeben?
Ich verlasse den Raum, gehe den Gang weiter und gelange in einen weiteren
Vorraum, der dem vorigen gleicht. Links eine Tür, geradeaus eine Tür, an der
Wand ein Bild. Blau. Leuchtend und ins helle abgestuft. Frauengestalten. Brüste
und Geschlechtsteile deutlich zu erkennen. „Drei Akte nach Beuys“ so der Titel.
Perspektive? Irrelevant. Die Farbe schwappt bis kurz vor die entschieden
gezeichneten Linien, vermeidet Konfrontationen. Poppig? Irrelevant. Ich sauge
den Geruch des trocknenden Leinöls tief ein, für mich ein wesentlicher Vorteil
von Originalen. Er übertönt endlich den störenden Geruch des Linoleumbodens, der
an vielen Stellen zerschlitzt ist und die darunterliegende Filzpolsterung
herausfasern lässt.
Der Raum hinter der linken Tür ist ziemlich klein. Bis auf einen Gasheizkörper
ist er leer. Die ehemals weiß gestrichenen Wände sind vergilbt, hier und da löst
sich die Tapete. An Nägeln hängen vierzehn (nachgezählt) kleine Bilder. Sie
zeigen Köpfe. Köpfe mit ähnlicher Physiognomie. Es sind Porträts von Peter
Piek, ich kenne ihn von einer Abbildung in einem Zeitungsbericht im
Feuilleton. Natürlich habe ich mich im Vorfeld zu diesem Interview über den
Maler informiert. Geboren 1981, Studium der Malerei an einer renommierten
staatlichen Kunstakademie, eigenwilliger Querschläger, keiner Kunstrichtung
zuschreibbar, enfant terrible im Kunstbetrieb. „Selbstbildnis als Maler“,
„Selbstbildnis als Mensch“. Alle leuchtend, alle in ziemlich krassen
Farbzusammenstellungen, neongrün und violett oder zitrongelb vor kobaltblau mit
verlaufendem rot und lila Linie: „Selbstbildnis als Rockstar“. Alle signiert mit
„peter p.“. Ich mache mir ein paar Notizen. Dabei werde ich von einem Geräusch
im Gang unterbrochen, als ob jemand läuft. „Peter P?“, ich schaue nach draußen.
Die angesplitterte Holztür ist die letzte, die vom Vorraum ausgeht. Gehe durch.
Dahinter ein Saal ohne weitere Ausgänge. Vielleicht zehn mal zehn Meter. Licht
von zwei Seiten Fensterreihen, eine Holzsäule in der Mitte. Bilder an die Wände
gelehnt. Sortiert. Auf der Rückseite beschriftet. Ölfarbenreste auf den
Teppichresten. Ich blättere in Zeichnungen auf den Zeichentischen an den
Fenstern. An der langen Wand drei große Formate mit noch frischem Farbauftrag,
Linien erkämpfen sich ihren Weg durch das Weiß. Suche nach Befreiung. Die freie
Linie. Wen will sie befreien? An der Decke hängt eine Glühlampe. Fotolampe.
Tageslichtspektrum. Ja, die untergehende Sonne.
Peter Piek ist nicht da. Es gibt keine weiteren Räume. Ich schaue noch
einmal in alle Räume und beschließe, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich gehe
dazu noch einmal zur Tischtennisplatte, wo ich eine Seite aus meinem Notizbuch
heraustrenne und mit einer Nachricht für Peter P. versehe. Dann gehe ich wieder
in den Malsaal, um sie dort, am zentralen Platz des Schaffens, zu hinterlegen.
Als ich die Tür zum Saal öffne, scheint dieser verändert. Gleißendes Licht
durchflutet ihn jetzt. In der Mitte Peter P. auf dem Boden sitzend. Eine leere
Pizzaschachtel und Weinflaschen liegen vor ihm. „Hallo Peter P.“, sage ich zu
ihm. „ich komme wegen des vereinbarten Interviews.“ Peter sagt nichts. Keine
Antwort oder irgendeine Begrüßung. „Peter P., können Sie mich hören?“ frage ich
ihn. Er rülpst. Und fängt an zu tanzen. Erst langsam, immer schneller werden
seine Bewegungen. Rhythmisch stampfen seine Füße. Er beginnt sich aufzulösen.
Alles verschwommen. Ich schaue zu. Es wird klarer. Farben bewegen sich. Ich
stehe still. Mir wird schwindlig. Ich gehe. Zur Tür. Sie ist blau.
Michael Goller, Leipzig, Januar 2005
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